Von Mensch zu Mensch

Gschichtn

aus‘m Leben

Die Langenloiserin Anna Thaller erforscht das dörfliche Leben ihrer Heimat. Ihr Herzensprojekt: das Kinderleben

in den 50er- und 60er-Jahren.


Text: Marcus Fischer Fotos: Sebastian Freiler

Anna Thaller am Herd jener Küche, in der viele Szenen

ihres Films über das Kinderleben im Dorf gedreht wurden.

A

ngefangen hat alles mit einem ganz persönlichen Interesse. In den 50er-Jahren, als Anna Thaller selbst noch ein Kind war, trugen viele

Gassen und Platzln ihrer Heimatgemeinde Lengenfeld neben der offiziel- len Bezeichnung auch einen Spitznamen wie die „Hoid“, den „Sauzipf“ oder den „Pudlhof“. Im Laufe der Jahrzehnte gerieten diese Namen im- mer mehr in Vergessenheit. In ihrem ersten Projekt „Lengenfelder Eigen- heiten“, mit dem sie 2006 den Ideenwettbewerb des Landes Niederöster- reich gewann, machte sie nicht nur die Spitznamen wieder ausfindig, son- dern erforschte auch deren Bedeutung: „Hoid“ bezeichnete den Platz, an dem der Gemeindestier und die Gemeindesau gehalten und gehütet wur- den, „Pudlhof“ bedeutet ein vom Wasser umgebenes Gehöft usw. Das Projekt wurde begeistert aufgenommen und weckte die Leidenschaft der Hobbyforscherin für weitere Erkundungen.


Körndlbauern und Winzer

Gemeinsam mit der Volkskundlerin Dr. Helga Maria Wolf stellte sie in einem 30-minütigen Film Arbeit und Alltag der Bauern und Winzer frü- her und heute gegenüber. Mit der Bestätigung, die sie für den Film „Körndlbauern und Zegerltrager“ erfuhr, wandte sie sich schließlich ih- rem Herzensprojekt zu: dem Dorfleben der Kinder in den 50er- und 60er-Jahren. In Interviews erzählte die Generation der heute 70- bis 80- Jährigen über ihren Alltag. Im daraus entstandenen Video „Roafen trei- ben & Kuchl ausreiben. Kinderleben auf dem Land“ beleuchten die Zeit- zeugen alle Aspekte ihrer Kindheit – die schönen wie die schmerzhaften.


Kinderarbeit war selbstverständlich

Anders als heute galten Kinder damals auch als Arbeitskräfte und muss- ten am Hof mitarbeiten. Zu den weniger beliebten Pflichten, vor allem der Mädchen zählten das „Kuchl ausreiben“ (Küchenboden schrubben) am Freitag oder Samstag und das Auskehren des Hofes, der nicht befes- tigt und voller Hendlmist war. Wenig Freude hatten Mädchen wie Buben auch am „Erdäpfel abkräuteln“ im Frühjahr: Gekochte Erdäpfel waren das Standardfutter der Schweine. Da die Nachtschattengewächse über den Winter keimten, bestand die Aufgabe der Kinder darin, die unzähligen Triebe abzubrechen – was bei der Menge an Erdäpfeln, die verfüttert wur- den, eine zeitraubende und langweilige Tätigkeit war. Allerdings gab es auch beliebte Arbeiten, wie z. B. das Erdäpfelklauben. Obwohl die Arbeit selbst anstrengend war, lockte am Ende das Feuer der verbrannten Stau- den, in dessen Glut die Kinder die Erdäpfel legten, bis sie gar waren und gegessen werden konnten.


Die große Freiheit

War die Arbeit erledigt, genossen die Kinder eine Freiheit, von der heute Heranwachsende nur träumen können. Gespielt wurde überall – auf der Straße, im Wald, auf den Wiesen – und meist waren die Kinder völlig auf sich gestellt. Spielzeug gab es kaum, was wiederum den Erfindungsreich- tum anregte. Mit Grasbüscheln wurden auf der Dorfstraße dicke grüne Striche auf den Asphalt gerieben, die das Spielfeld markierten – und schon konnte es losgehen mit Fußball, Völkerball oder Abschießen. War kein Ball vorhanden, knotete man Lumpen zu einem „Fetzenlaberl“ zu- sammen. So sehr die Kinder beim Spielen sich selbst überlassen waren, eine Regel galt es zu befolgen: Zum Gebetläuten (im Winter um 19 Uhr, im Sommer um 20 Uhr), musste man wieder zu Hause sein.


Pfitschipfeil und Weidenpfeiferl

Auch viele andere Spielzeuge bastelte man sich selber: zum Beispiel kleine Pfeiferln aus den jungen Trieben der Weide, die man beim Indianerspie- len als Warnsignal verwendete. Natürlich wurden auch die Waffen der furchtlosen Krieger selber hergestellt: Bogen und Pfitschipfeil fertigte man sich aus dem Holz der Haselstaude – je länger der Stock war, desto weiter flogen die Pfeile. Die Mädchen übten sich bei ihren Spielen oft in Geschicklichkeit, wie etwa beim Fadenspiel (ein bestimmtes Muster wur- de aus der Hand einer anderen übernommen) oder beim Kranzflechten aus Margeriten. Auch beim Badespaß waren die Kinder erfinderisch. In der Gruppe brachte man von zu Hause Bretter, Pfosten, Nägel und Werk- zeug und zimmerte daraus einen „Schwö“ (Schwelle), der unten mit Pa- pierresten abgedichtet wurde. Bis zu eineinhalb Meter staute man so das Wasser des Dorfbachs auf – tief genug, um darin schwimmen zu lernen. Zum weniger erfreulichen Teil des Abenteuers gehörte freilich die Schimpfe des Vaters, wenn er draufgekommen war, dass in der Werkstatt Holz und Nägel fehlten.


Der erste Fernseher

Eine magische Anziehungskraft übte der Fernseher auf die Kinder aus. Genau einen gab es davon im Dorf – und der stand im Wirtshaus. Es war ein Wunderwerk, das unbegreiflich, ja sogar unheimlich erschien. „Hast schon gehört“, soll ein älterer Herr damals zu seinem Nachbarn gesagt haben, „im Wirtshaus hams jetzt an Radio mit Bild! I moan, die Welt steht nimmer lang.“ Derartige Berührungsängste hatten die Kinder aller- dings keine. Im Gegenteil. Jeden Mittwoch und Sonntag saßen sie Punkt 17 Uhr im Fernsehzimmer des Wirtshauses. Bevor das Gerät angeschalte- te wurde, kassierte der Wirt 50 Groschen von jedem Kind und los gings mit Lassie, Kasperl, Fury und anderen Kinderfilmen. Meist hatten die Kleinen von den Großeltern noch 50 Groschen dazubekommen, um sich zum Fernsehvergnügen ein Himbeerwasser zu kaufen. An besonderen Tagen bekamen sie sogar einen ganzen Schilling extra und konnten sich damit ihr Lieblingsgetränk leisten: ein prickelndes Himbeersoda.


Schläge und Strafen

In Anna Thallers Film kommen aber auch die Schattenseiten der damali- gen Zeit zum Ausdruck. Dass man für schlechte Leistungen in der Schule, fürs Zuspätkommen oder einfach fürs „Schlimmsein“ Ohrfeigen von den Eltern bekam, war normal. Dabei gab es in vielen Familien ein gestaffeltes System von Strafen: Für leichte Vergehen hatte man sich in die Ecke zu stellen. Bei gröberen Verstößen musste man knien. Waren die Eltern rich- tig böse, hieß es: Scheitlknien. Besonders schmerzhaft war diese Strafe dadurch, dass die Kinder mitunter eine halbe Stunde oder Stunde auf dem Holzscheit knien mussten. „Das Scheitlknien war das Schlimmste, man hat den Kindern ja auch die Knie ruiniert“, erzählt Anna Thaller. Aber nicht nur zu Hause wurde körperlich gezüchtigt, auch in der Schule gab es bestimmte Lehrer, die einem mit dem Rohrstock auf den Hintern schlugen.


Für die Zukunft bewahren

In ihrem Film kommen viele andere Themen zur Sprache: die drei Arten von Kleidung zum Beispiel, die man als Kind hatte (Sonntagsgewand, Schulgewand und ärmliches Alltagsgewand), das gemeinsame Beten im Herrgottswinkel u. v. m. Unzählige Male hat Anna Thaller den Film bis- her gezeigt. Die jüngeren Zuschauer staunen regelmäßig, die älteren sind meist zu Tränen gerührt. Als hätte Anna Thaller ihnen eine Tür zu einem Teil ihrer selbst geöffnet. „Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft.“ Dieses Zitat Wilhelm von Humboldts prägt das gesamte Schaf- fen von Anna Thaller. „Vor Kurzem hat mich ein Volksschulkind gefragt, ob ich weiß, in welcher Sprache das Bio-Schweinderl mit dem Bauern spricht. Da hab ich erst gestutzt, bis mir eingefallen ist, dass dieses Kind das Leben am Bauernhof nur aus der Werbung kennt. Das fand ich so traurig. Genau darum möchte ich diese Geschichten weiter erforschen und den Menschen erzählen – den jungen wie den alten.“

Im Herrgottswinkel versammelten sich Kinder und Eltern jeden Abend, um gemeinsam zu beten.

Der Küchenherd war das Herzstück des häuslichen Lebens. Hier wurde gekocht und geheizt, hier gab es warmes Wasser aus dem sogenannten „Schiff“ und am Samstag halfen die Kinder hier der Großmutter beim Backen des Guglhupfs für das süße Früh- stück am Sonntag.

Am Küchentisch las die Mutter oder Großmutter den Kindern Geschichten vor.



„Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft.“

Wilhelm von Humboldt

Kindheit am Dorf der 50er- und 60er-Jahre: Fürs Foto wurde oft das gute Schulgewand angezogen, da das Alltagsgewand meist recht ärmlich war.


„Hast schon gehört, im Wirtshaus hams jetzt an Radio mit Bild! I moan, die Welt steht nimmer lang.“

Spielzeug machten sich die Kinder meistens selbst.



Mei Kunde

Anna Thaller

kauft im Nah&Frisch punkt von Sabine Schiegl ein – in der Bäckhornstraße 5 in 3550 Langen- lois, NÖ.

Die DVDs „Körndlbauern & Zegerltrager“ und „Roafn treiben & Kuchl ausreiben. Kindheit auf dem Land“ kann man bei Anna Thaller für je € 19,– (plus Porto) be- stellen (thaller.anna@a1.net; Tel.: 0664 424 78 13).

Archivfotos & DVD: beigestellt

Zur Vollansicht bitte antippen.

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